Die Malerei von Marina Sailer schwelgt in kräftigen, aber modulierten und nuancierten Farben, mit denen sie ihre neobarocken, phantastischen Rauminszenierungen gestaltet. Vor funkelnden Kronleuchtern, spiegelndem Glas, üppigen Rankenmustern schweben in morbiden Palästen Fische, Schmetterlinge oder auch Elfenwesen wie in Träumen vorbei. Die märchenhaft mysteriösen Bilder entfalten eine Sogwirkung, der man sich als Betrachter gerne hingibt.
Die in Witebsk (Weißrussland) geborene, nach Studium in Karlsruhe und Düsseldorf in Düsseldorf lebende Künstlerin bringt auf ihren Bildern Wesen und Gegenstände in skurrilen Kombinationen zusammen. Unser Gehirn ist unter Hochdruck damit beschäftigt, dieses Zusammentreffen scheinbar unzusammentreffender Objekte rational zu erklären. Fische schwimmen dort zwischen Wasserpflanzen inmitten eines Innenraums mit dem historischen Interieur des 19. Jahrhunderts, in dem sich Äffchen tummeln und durch den mädchenhafte Feengestalten schweben, halbtransparent, so dass man sie für Traumgestalten halten könnte. Daneben bevölkern Tauben, Schwäne und verschiedene exotische Vögel, Katzen, Schmetterlinge und Möpse ihre Bilder. Ihre Innenräume sind angefüllt mit Postermöbeln, Stühlen, Betten, Kissen, üppigen floralen Stoffen, Teppichen, Kleiderständern, Lampen, Treppenhäusern mit reich verzierten Geländern.
Reales, das unseren Erwartungen nicht zuwiderläuft, und Fiktionales werden miteinander verknüpft zu einem heterogenen, gleichwohl harmonisch verbundenen Konglomerat. Inmitten dieses plüschigen Interieurs räkelt sich eine zarte Frauengestalt auf einem Sessel, wie eine modere Variante von Gainsboroughs Porträts vor dem versammelten Besitz. In mehreren Bildern wendet sich die Malerin Landschaftsszenen zu. Wie durch eine magische Kraft werden wir in die Naturszenerie hineingezogen. Die suggestive Wirkung wird unterstützt durch die Rückenfiguren, ein typisch romantisches Motiv. Meist sind es junge Mädchen, die sich, wiederum allein, offenbar im Wald verirrt haben, auch dies ein romantisches Literaturmotiv, und vor einem Weg oder einer Lichtung innehalten und sich wie die Betrachter von einem magischen Licht bezaubern lassen. Sowohl die Interieurbilder wie auch die geheimnisvollen Landschaften nehmen uns gefangen mit ihren Lichteffekten, einem flirrenden Licht, mit Glanzpunkten auf Kronleuchterkristallen, auf Seifenblasen und zwischen Waldesgeäst. Die Bilder versetzen uns mit den von ihnen erzählten rätselhaften Geschichten in eine geheimnisvolle Stimmung, Bilder, die aus ganz subjektiven Erinnerungen, Erlebnissen, Erfahrungen und Träumen leben. Vergeblich sucht man nach den konventionellen Symbolen der Malerei, bis man sich mit der Vorstellung einer individuellen, undechiffrierbaren Hermetik abfindet. Die Bilder scheinen für die Künstlerin Phantasiereisen zu sein, in denen sie ihre Freiheitsvorstellungen auslebt. Sie leben aus der Emotionalität der Künstlerin heraus. Aus Bruchstücken ihrer eigenen Erinnerung, ihrer Gedankenwelt und ihrer Phantasie erschafft sie wie auf einer Bühne eine phantastische Wirklichkeit. Mit Recht hat man ihre Malerei auf die frühromantische Kunsttheorie bezogen, etwa auf das Novalis-Fragment: „In unserem Gemüt ist alles auf die eigenste, gefälligste und lebendigste Weise verknüpft. Die fremdesten Dinge kommen durch Einen Ort, Eine Zeit, Eine seltsame Ähnlichkeit, einen Irrtum, irgend einen Zufall zusammen. So entstehen wunderliche Einheiten und eigentümliche Verknüpfungen.“ Wie die Frühromantiker erkennt auch Marina Sailer der Phantasie und Intuition die Macht zu, uns den „geheimnisvollen Weg nach Innen“ (Novalis, Blütenstaub-Fragmente) zu führen.
Jenseits der abgebildeten Realität erfreut uns auch ihre Malweise. Marina Sailer beherrscht alle Register der effektvollen Illusionsmalerei. Da gibt es sehr realistische, genau gemalte Einzelheiten, wie z.B. ihr Selbstporträt in „Pariser Zeit“, fein gemalte grau-braun-violette Verläufe, im gleichen Bild aber auch harte Farb- und Helligkeitskontraste und Lineaturen in einem neongrellen Türkisgrün, wie modern kalkulierte Störungen. Wir finden impressionistisch anmutende Farbtupfer und luminaristische Lichtflecken, die in unserer Wahrnehmung zu einem flirrenden Waldblumengewoge verschmelzen. Wie Sternenstaub sprüht sie eine Wolke von Glanzlichtern über den Luftraum des großbürgerlichen Salons. Womöglich konnte Marina Sailer an den früheren Ideen von Schlegel, Schiller, Novalis orientiert sein, die den Künstler und den Dichter mit der magischen Fähigkeiten begabt sahen, uns als Betrachter auf den Weg nach Innen zu führen. In Marina Sailers Bildern können heutige Betrachter erleben, wie eine romantische Kunstauffassung mit der Moderne verknüpft werden kann.
Helmut Kesberg, Köln